Kriegsende in Thomm (2005)

 

600 Einwohner suchen Schutz unter Tage

Es war am 1. März 1945, einige Häuser waren schon von Bomben zerstört und die Frontlinie kam immer näher. Ein Großteil der Dorfbevölkerung, beladen mit ein paar Habseligkeiten machte sich auf den Weg in die Wälder um Thomm. In weiser Voraussicht hatten Thommer Bergleute, die in Jahrzehnten zugefallenen Eingänge mehrerer Schiefergruben freigegraben. Grundnahrungsmittel und Stroh waren im Vorfeld in die Gruben transportiert worden.

Die Höhenlage von Thomm war mit 475 m ein strategisch wichtiger Punkt. Hinzu kam der Kirchturm mit freier Sicht bis weit ins Luxemburger Land. Auf ihm hatten sich die Beobachtungsposten und Funker platziert. Zahlreiche Bunker für Mannschaft und Munition, mehrere Lagerhallen, Panzersperren an den Ortseinfahrten, sowie eine Badeanstalt für Offiziere waren in Thomm Bestandteil des Westwalls. Infanterie, Artillerie, Flak, Funker und Feldgendarmerie, sowie Kriegsfahrzeuge vom Motorrad bis zum Panzer waren zu dieser Zeit in Thomm stationiert. Sobald ein Panzer der Alliierten die Höhe des Galdberges (bei Mertesdorf) erreichte, war er im Visier der Beobachter vom Thommer Kirchturm. Die Artillerie an der Ostseite unterhalb des Ortes wurde vom Kirchturm dirigiert. Wie von Geisterhand gesteuert, wurden mehrere Panzer auf dem Plateau des Galdberges abgeschossen und die Front stand mehr als zwei Wochen vor dem kleinen Örtchen Thomm.

Zeitungsmacher und Radiosprecher hatten den Galdberg auf Goldberg umbenannt. Europaweit sprachen die Nachrichtendienste von der Festung Thomm. So ordneten die Befehlshaber der Alliierten die Bombardierung von Thomm an. Damit war das Schicksal unseres Dorfes besiegelt. „Geht in den Wald, ein englischer Luftangriff auf Thomm steht unmittelbar bevor", so sprach ein Funker zu den wenigen Thommern, die sich noch im Ort aufhielten. Die Bomber kamen und Thomm brannte. 30 bis 40 % der Häuser, Scheunen und Ställe war ausgebrannt und ebenso viele von Bomben und Granaten zerstört oder schwer beschädigt. Vier Personen aus der Zivilbevölkerung wurden Opfer dieser Angriffe. Dank unserer Schiefergruben blieb uns das Massensterben erspart. So hat der Schiefer-Bergbau in Thomm eine weitere historische Bedeutung der ganz anderen Art erhalten. Bis zum Tag des Bombenangriffs wurde auf alles geschossen, was sich rund um Thomm bewegte. Die täglichen Versorgungsgänge ins Dorf zur Beschaffung der Grundnahrungsmittel, vor allem Milch für die Kleinsten und Betreuung des Viehbestandes waren hochgefährlich.

Auch unser Pastor, Martin Steffen, war kurz vor dem Bombenangriff noch im Dorf. In letzter Minute erreichte er mit einigen Thommern unter Beschuss den schützenden Wald. In einer der Schiefergruben hatte er sich mit einem Notaltar eingerichtet, wo er für seine Pfarrgemeinde die Messe halten konnte. Auf den Feuerstellen vor den Gruben wurde in großen Töpfen gekocht. Es waren jene Töpfe, die sonst den Schweinen oder der Wäsche vorbehalten waren. Dass auf einer dieser Feuerstellen neben dem großen Topf noch ein Topf mit den Windeln des jüngsten Grubenbewohners, der vier Wochen alt war, stand, störte niemanden. Manchmal wurden einzelne Soldaten, die im Wald umherirrten und tagelang keine Verpflegung bekommen hatten, mitgefüttert. Der heute 60-jährige Manfred Müller erblickte am 15. März in der Schiefergrube nicht das Licht der Welt, es war der matte Schein einiger Karbidlampen. Am 17. März sind die Amerikaner in Thomm eingerückt. Es war plötzlich still geworden. Weit und breit waren weder Flieger noch Schüsse zu hören. Trotz aller Entbehrungen die für die Zeit danach Jung und Alt im Bewusstsein hatte, gab es ein Gefühl von Freiheit. Weder aus der Luft noch vom Boden wurde nach uns geschossen. Zwischen dem 18. und 20. März sind die Thommer, die teilweise bis zu 21 Tage in den dunklen Schieferstollen aushielten, ins Dorf zurückgekommen. Es war ein schwerer Gang. Viele fanden da, wo eine Woche zuvor noch ihr Zuhause war, nur noch verbrannte Erde. Wie die Wesen vom anderen Planeten wurden sie betrachtet, die Soldaten, die von den Panzern stiegen. Menschen mit schwarzer Hautfarbe hatte man noch nie gesehen. Obwohl der Kirchturm einige Granateinschläge aushalten musste, bestand für ihn keine Einsturzgefahr. Der größte Teil der Wohnhäuser, Scheunen und Ställe war von Bomben und Granaten zerstört oder ausgebrannt. Zwischen den Giebeln, die einsam in den Himmel ragten, stieg hier und da noch kalter Rauch auf, der sich mit dem Geruch von verendetem Vieh vermischte. Kriegsbilder im Fernsehen vom Kosovo, Afghanistan, Irak usw., wo Kinder in schmutzigen Kleidern und zerrissenen Schuhen, mit großen Augen ängstlich die Soldaten anschauen, die sie sprachlich nicht verstehen, erinnern daran, wo wir live dabei waren. Nur etwas war anders, wir konnten den Krieg nicht mit der Fernbedienung abschalten.

1965 wurde in Thomm eine neue Kirche gebaut. Der alte Kirchturm blieb erhalten und wird liebevoll gepflegt. Heute schaut er von seiner Thommer Höhe mit der immer noch freien Sicht in die Weiten eines friedlichen Europas. Allen Thommern aus den Geburtsjahrgängen 1915 bis 1934, die mir mit ihren Erinnerungen bei der geschichtlichen Aufarbeitung dieses Zeitabschnittes geholfen haben, sage ich herzlichen Dank.

Karl Heinz Keiser

Veröffentlichung in gekürzter Form in der Serie "Zeitzeugen" im Trierischen Volksfreund, März 2005